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Renata hatte keine Ahnung, was der blonde Fremde gesagt haben mochte, um Sergej Jakut zu überreden, einen Außenstehenden wie ihn auf sein Privatgelände im Norden der Stadt mitzunehmen. In den zwei Jahren, die Renata Mitglied von Jakuts Leibwache war, war niemand außer dem kleinen Kreis von Hauspersonal und privatem Sicherheitsdienst erlaubt worden, das abgeschiedene Waldstück zu betreten, in dem sein Jagdhaus lag.

Sergej Jakut war von Natur aus argwöhnisch, eigenbrötlerisch und von einer Grausamkeit, die an Tyrannei grenzte, und so war auch seine Welt eine Welt der Überwachung und des Misstrauens. Gnade Gott demjenigen, der ihn irgendwie verärgerte, denn seine Wut besaß die Wucht eines Hammerschlags. Sergej Jakut hatte wenige Freunde und noch weniger Feinde, denn in der gnadenlosen Kälte, die er ausstrahlte, schien niemand lange zu überleben.

Inzwischen kannte Renata den Mann, dem sie diente, so gut, dass sie wusste, dass er ungeladene Gäste nicht schätzte, aber die Tatsache, dass er diesen Eindringling nicht getötet hatte - diesen Krieger, wie er ihn vorhin in der Gasse genannt hatte -, schien zumindest einen kleinen Grad von Respekt anzudeuten. Wenn nicht für den Krieger selbst, dann für die Gruppe, der er angehörte, den Orden.

Als sie den gepanzerten, spezialangefertigten Mercedes in einem Bogen vor den Eingang des aus rohen Holzbalken gezimmerten Blockhauses am Ende der langen Einfahrt steuerte, konnte Renata nicht widerstehen, im Rückspiegel einen raschen Blick auf die beiden Vampire zu werfen, die schweigend hinter ihr saßen.

Eisblaue Augen sahen sie im Spiegel an. Er zwinkerte nicht, nicht einmal, als die Sekunden sich ausdehnten und nicht mehr von Neugier die Rede sein konnte, sondern nur noch von offener Herausforderung. Er war stinksauer, sein Ego litt wohl immer noch daran, dass sie ihn in der Gasse überlistet und in einen Hinterhalt gelockt hatte. Renata täuschte höfliche Ahnungslosigkeit vor und entzog sich seinem unverwandten Blick, indem sie den Wagen vor der Hütte zum Stehen brachte.

Einer der Stammesvampire, die am Eingang postiert waren, kam die breiten Holzstufen hinunter, um den Schlag der Limousine zu öffnen. Ein paar Schritte hinter ihm stand ein weiterer Wächter mit zwei angeleinten russischen Wolfshunden. Die großen Wachhunde bellten und knurrten mit wild gebleckten Zähnen, bis zu dem Augenblick, als Sergej Jakut aus dem Wagen stieg. Die Tiere waren so gut ausgebildet wie der Rest seines Haushaltes: Ein Blick von ihrem Herrn, und sie verfielen augenblicklich in unterwürfiges Schweigen, die mächtigen Köpfe gesenkt, als er und der Krieger an ihnen vorbei ins Haus traten.

Der Wächter, der beim Wagen stand, schloss den Schlag und warf Renata durch die getönte Fensterscheibe einen fragenden Blick zu.

Wer zur Hölle ist das denn? , besagte sein Gesichtsausdruck, aber bevor er ihr ein Zeichen geben konnte, das Fenster herunterzulassen, damit er sie fragen konnte, legte sie schon den Gang ein und trat aufs Gas.

Als sie den Wagen von der Schottereinfahrt zur Garage hinter dem Haus fuhr, krochen der Schmerz und die Anspannung, die sie vorhin gespürt hatte, wieder in ihren Körper. Der Kampf heute Abend hatte sie erschöpft, sie war körperlich und seelisch ausgelaugt; alles, was sie jetzt wollte, waren ihr Bett und ein langes, heißes Bad. In welcher Reihenfolge war ihr ziemlich egal.

Renata hatte in dem Jagdhaus ihr eigenes kleines Privatquartier, ein Luxus, den Jakut keinem der Männer, die ihm dienten, zugestand. Selbst Alexej musste sich ein Zimmer mit den anderen Wächtern teilen, sie schliefen auf fellbedeckten Pritschen auf dem Boden, wie Soldaten in einer mittelalterlichen Burg. Renata war nur wenig besser untergebracht: Ihr Zimmer war so eng, dass nur ein Doppelbett, ein Nachtschränkchen und die Truhe, die ihre spärliche Garderobe enthielt, hineinpassten. Das Badezimmer am anderen Ende des Ganges und die Badewanne auf Klauenfüßen teilte sie sich mit dem einzigen anderen weiblichen Wesen in Sergej Jakuts Gefolge.

Die Ausstattung war allenfalls rustikal, wie auch der Rest des großen hundertjährigen Blockhauses, und die Möblierung war spärlich. Um nicht zu sagen leicht schäbig.

Obwohl Jakut ihr einmal erzählt hatte, dass er und sein Gefolge erst seit zehn Jahren hier wohnten, war das alte Jagdhaus vollgestopft mit der Ausbeute eines - so schien es - halben Jahrhunderts an Tierpelzen, ausgestopften Wildtieren und Geweihtrophäen. Sie vermutete, dass die morbide Dekoration dem Vorbesitzer gehört hatte, aber Jakut schien sich nicht daran zu stören. Er schien die Primitivität des Hauses sogar ausgesprochen zu genießen.

Renata wusste, dass der sibirische Vampir älter war, als er schien - viel, viel älter als die meisten anderen Mitglieder seiner Art. Und es gehörte nicht viel dazu, sich vorzustellen, wie er, gewandet in Tierhäute und Pelze und mit Stahl und Eisen bewaffnet, über schutzlose Dörfer im abgelegenen Norden Russlands hergefallen und dort Angst und Schrecken verbreitet hatte. Die modernen Zeiten hatten ihm nichts von seinem rauen Wesen genommen, und Renata konnte Jakuts tödliche Natur aus erster Hand bezeugen.

Ihr Magen verkrampfte sich vor Scham, einem solchen Mann zu dienen. Seit sie einen Eid geschworen hatte, ihn zu schützen, in Gedanken und Taten loyal zu ihm zu stehen, fühlte sie sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Haut. Sie hatte ihre Gründe, zu bleiben - besonders jetzt -, aber es gab immer noch so vieles, was sie zu ändern wünschte. Immer noch so viel zu bereuen …

Sie schob diese Gedanken beiseite, es war gefährlich, so etwas auch nur zu denken. Wenn Sergej Jakut den Eindruck bekam, dass ihre Loyalität zu ihm auch nur das Geringste zu wünschen übrig ließ, würde das unmittelbare und bittere Folgen haben.

Renata betrat ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Sie schnallte ihre Waffenholster ab und legte Schusswaffen und Messer ordentlich auf der alten Truhe am Fußende des Bettes ab. Alles tat ihr weh, Muskeln und Knochen schmerzten von der mentalen Erschöpfung. Ihr Nacken war steif und verspannt, sie verzog das Gesicht, als sie versuchte, die Anspannung fortzumassieren.

Gott, bei diesen Schmerzen brauchte sie jetzt nichts dringender als etwas Ruhe und Frieden.

Von der anderen Seite der Wand war ein leises Kratzgeräusch zu hören. Es tat in ihren Ohren weh wie Nägel auf einer Schiefertafel, ihr Kopf fühlte sich so zerbrechlich an wie eine Glasglocke.

„Rennie?“ Miras helle Mädchenstimme war leise, nur ein vorsichtiges kleines Flüstern drang durch die Ritzen zwischen den schweren Holzbalken. „Rennie … bist du das?“

„Ja, Mäuschen“, antwortete Renata. Sie ging zum Kopfende des Bettes und legte ihre Wange gegen die abgerundeten Balken der Wand. „Ich bin’s. Warum bist du denn noch wach?“

 „Weiß nicht. Ich konnte nicht einschlafen.“

„Hast du wieder böse Träume?“

„Mhm. Ich … sehe ihn ständig. Den bösen Mann.“

Renata seufzte, als sie das Zögern in diesem leisen Geständnis hörte. Sie dachte an das warme Bad, von dem sie nur noch ein paar Minuten trennten. Es war eine willkommene Einsamkeit, die sie in solchen Tagen mehr brauchte als alles andere, wenn die Nachwirkungen ihrer übersinnlichen Gabe - die ihr vor zwei Jahren auf diesem abgelegenen Waldstück das Leben gerettet hatte - ihr eine solche Breitseite versetzten.

„Rennie?“, kam Miras leise Stimme wieder. „Bist du noch da?“

„Ich bin da.“

Sie stellte sich durch die knorrigen Kieferstämme das unschuldige Gesicht vor. Sie musste das Kind nicht sehen, um zu wissen, dass Mira wahrscheinlich die ganze Zeit über in der Dunkelheit gesessen und gewartet hatte, Renata nach Hause kommen zu hören, damit sie sich nicht so allein fühlte. Die letzten Tage war sie ziemlich verstört gewesen - verständlich, bei dem, was sie mit angesehen hatte.

Ach, zur Hölle mit dem verdammten Bad,  dachte Renata heftig. Sie verbiss sich den Schmerz, der beim Aufstehen über ihre Haut lief, streckte die Hand aus und zog ein Harry-Potter-Buch aus ihrer Nachttischschublade.

„Hey, Mäuschen? Ich kann auch nicht einschlafen. Wie wär’s, wenn ich zu dir rüberkomme und dir ein bisschen vorlese?“

Miras leiser Freudenjauchzer klang gedämpft, als hätte sie das Gesicht im Kissen vergraben, um nicht das ganze Haus mit ihrem Aufschrei aufzuscheuchen.

Trotz ihrer Schmerzen und ihrer Müdigkeit lächelte Renata. „Das soll dann wohl ein Ja sein.“

Sergej Jakut führte Nikolai in einen riesigen, offenen Raum, der früher, in der Glanzzeit des alten Jagdhauses, wohl einmal ein Bankettsaal gewesen sein musste. Nun standen dort keine Tisch- oder Bankreihen mehr, nur noch ein paar große Ledersessel waren vor einem hoch aufragenden steinernen Kamin am hinteren Ende des Raumes gruppiert, ein gedrungener Massivholzschreibtisch stand in der Nähe.

Die Felle von Bären, Wölfen und anderen, exotischeren Raubtieren waren als Teppiche auf dem Holzboden ausgebreitet. Über dem steinernen Kamin hing ein Elchkopf mit einem mächtigen, knochenweißen Geweih, die dunklen Glasaugen schienen auf einen entfernten Punkt am anderen Ende der weiten Halle gerichtet. Seine lang verlorene Freiheit?, dachte Niko trocken, als er Jakut zu den Ledersesseln am Feuer folgte und dort auf die einladende Geste des Gen Eins‘ Platz nahm.

Nikolai sah sich beiläufig um und überlegte, dass dieses Jagdhaus mindestens hundert Jahre als sein musste und ursprünglich wohl für menschliche Bewohner gebaut worden war, obwohl man die wenigen Fenster inzwischen mit den unerlässlichen Blenden ausgestattet hatte, die kein UV-Licht durchließen. Es war kein Ort, von dem man gedacht hätte, dass ein Vampir sich darin häuslich niederließ. Der Stamm bevorzugte für seine Dunklen Häfen, in denen man meist in Familien oder Gemeinschaften zusammenlebte, sonst eher eine moderne, luxuriöse Umgebung, und vieler dieser Orte waren zudem mit Alarmanlagen und Sicherheitszäunen ausgerüstet.

Als Vampirdomizil war Jakuts rustikale Behausung, obwohl sie abgelegen genug war, um seine Privatsphäre vor neugierigen Menschen zu verbergen, alles andere als typisch. Aber das war schließlich auch Sergej Jakut nicht.

„Wie lange lebst du schon in Montreal?“, fragte Nikolai.

„Nicht lange“, antwortete Jakut mit einem Schulterzucken, die Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels gestützt. Seine lässige Haltung wirkte entspannt, aber seine Augen hatten Niko die ganze Zeit über unablässig gemustert - ihn abgeschätzt -, schon seit sie sich gesetzt hatten. „Ich finde es von Vorteil, in Bewegung zu bleiben.

Man bekommt meistens Ärger, wenn man sich irgendwo zu lange niederlässt.“

Nikolai dachte über diese Bemerkung nach und fragte sich, ob Jakut aus eigener Erfahrung sprach oder ob er seinem ungebetenen Gast eine Warnung zukommen lassen wollte.

„Erzähl mir von dem Anschlag auf dich“, sagte er, unbeeindruckt von dem ausdruckslosen Blick und dem offenen Misstrauen des Gen Eins. „Und ich muss auch mit dieser Zeugin reden.“

„Natürlich.“ Jakut gab einem seiner Bodyguards ein Zeichen. „Hol mir das Kind.“

Der groß gewachsene Mann nickte gehorsam und ging, um den Befehl auszuführen. Jakut beugte sich in seinem Sessel vor. „Der Anschlag fand hier in diesem Raum statt.

Ich habe in genau diesem Sessel gesessen und ein paar von meinen Abrechnungen durchgesehen, als der diensthabende Bodyguard draußen ein Geräusch hörte. Er ging hinaus, um nachzusehen, und als er wiederkam, sagte er, es seien wohl nur Waschbären in einen Schuppen auf dem hinteren Teil des Geländes eingedrungen.“ Jakut zuckte die Schultern. „Daran war nichts Ungewöhnliches, also habe ich ihn hinausgeschickt, um dieses Ungeziefer zu verscheuchen. Als mehrere Minuten vergingen und er immer noch nicht zurück war, wusste ich, dass es Ärger geben würde. zu diesem Zeitpunkt war der Wächter wohl schon tot.“

Nikolai nickte. „Und der Eindringling schon im Haus.“

„Das war er.“

„Was ist mit dem Mädchen - der Zeugin?“

„Sie hatte eben zu Abend gegessen und war hier bei mir.

Sie war auf dem Boden neben dem Feuer eingeschlafen, wurde aber gerade rechtzeitig wach, um zu sehen, dass der Angreifer direkt hinter mir stand. Ich hatte nicht einmal gehört, dass der Mistkerl sich bewegt hatte, so verstohlen und schnell war er.“

„Ein Stammesvampir“, schlug Niko vor.

Jakut neigte zustimmend den Kopf. „Keine Frage, er war einer von uns. Gekleidet wie ein Einbrecher, ganz in Schwarz, Kopf und Gesicht verdeckt von einer schwarzen Nylonmaske, die nur seine Augen freiließ, aber für mich besteht kein Zweifel, dass er einer von uns war. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er könnte sogar selbst Gen Eins gewesen sein, so stark und schnell wie er war. Wenn das Kind nicht aufgewacht wäre und mir eine Warnung zugerufen hätte, hätte ich im nächsten Augenblick meinen Kopf eingebüßt. Er stand hinter meinem Stuhl und wollte mir eine dünne Drahtschlinge um den Hals legen. Miras Aufschrei hat ihn eine entscheidende Sekunde lang abgelenkt, und ich konnte die Hand hochreißen und den Draht abwehren, mit dem er mir die Kehle durchschneiden wollte. Ich konnte mich aus seiner Reichweite winden, aber bevor ich ihn anspringen oder die Wachen rufen konnte, war er schon entkommen.“

„Einfach so, er hat sich umgedreht und ist abgehauen?“, fragte Nikolai.

„Einfach so“, erwiderte Jakut. Ein träges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ein Blick auf Mira, und der Feigling hat das Weite gesucht.“

Nikolai stieß einen leisen Fluch aus. „Da hast du verdammtes Glück gehabt“, sagte er. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass der Anblick eines Kindes einen erfahrenen, perfekt ausgebildeten Profikiller dermaßen verstören konnte. Das ergab einfach keinen Sinn.

Bevor er Jakut gegenüber eine entsprechende Bemerkung machen konnte, näherten sich vom anderen Ende des lang gestreckten Raumes Schritte. Vor dem Wächter, den Jakut losgeschickt hatte, trat Renata mit einem schmächtigen, verwahrlosten Mädchen ein. Renata hatte ihre Waffen abgelegt, aber sie ging beschützend neben dem Kind her, und ihr kühler Blick war wachsam, als sie Mira in den Raum begleitete.

Niko konnte nicht umhin, den seltsamen Aufzug dieses Kindes anzustarren. Der pinkfarbene Schlafanzug und die Pantoffeln mit den Hasenohren waren ungewöhnlich, aber es war der kurze, schwarze Schleier über dem oberen Teil ihres Gesichtes, den er am merkwürdigsten fand.

„Renata hat mir eine Geschichte vorgelesen“, sagte Mira, und in ihrer leisen Stimme klang eine fröhliche Unschuld mit, die in Jakuts grobem Heim völlig deplatziert wirkte.

„Ach was?“, fragte der Gen Eins langsam, eher an Renata gerichtet als an das Kind. „Komm näher, Mira. Hier ist jemand, der dich gerne kennenlernen möchte.“

Der Wächter trat zurück, sobald Mira vor Jakut stand, aber Renatas gestiefelte Füße blieben fest an ihrer Seite.

Zuerst fragte Niko sich, ob das Kind vielleicht blind war, aber das kleine Mädchen bewegte sich ohne Zögern und kam die wenigen Schritte zu Jakut und Nikolai hinüber.

Der kleine Kopf wandte sich Nikolai zu. Sie konnte definitiv sehen. „Hallo“, sagte sie und schenkte ihm ein höfliches kleines Nicken.

„Hallo“, erwiderte Nikolai. „Ich habe gehört, was neulich Nacht hier passiert ist. Du musst sehr mutig sein.“

Sie zuckte mit den Schultern, aber es war unmöglich ihren Gesichtsausdruck zu deuten, da nur ihr Näschen und ihr kleiner Mund unter dem Saum ihrer Kopfbedeckung sichtbar waren. Nikolai sah das kleine Mädchen an - diese lausbübische, kaum einen Meter große Göre, der es irgendwie gelungen war, einen Vampir in die Flucht zu schlagen, der den Auftrag hatte, einen der mächtigsten ihrer Art zu ermorden. Das musste einfach ein Witz sein. Machte Jakut sich etwa über ihn lustig? Was konnte dieses Kind nur getan haben, um den Anschlag zu vereiteln?

Nikolai sah Jakut an und wollte ihn schon zur Rede stellen. Das musste einfach völliger Unsinn sein. Verdammt noch mal, der Anschlag konnte sich einfach nicht so abgespielt haben, wie er gesagt hatte.

„Nimm deinen Schleier ab“, wies Jakut das Mädchen an, als wüsste er genau, was Niko gerade dachte.

Ihre kleinen Hände hoben sich und ergriffen den Saum des kurzen, schwarzen Gazestreifens. Sie schlug den Schleier aus dem Gesicht zurück, schien aber absichtlich den Blick gesenkt zu halten. Renata stand völlig reglos neben dem Kind, ihre Miene gleichmütig, doch ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie schien den Atem anzuhalten, ihre Haltung war wachsam und angespannt.

„Schau uns an, Mira“, befahl Jakut ihr, sein Mund zu einem Lächeln gekräuselt. „Schau unseren Gast an und zeig ihm, was er wissen will.“

Langsam hoben sich ihre dunkelbraunen Wimpern. Das Mädchen hob das Kinn, hob den Kopf und sah Niko in die Augen.

„Herr im Himmel“, zischte er, sich kaum bewusst, dass er überhaupt sprach, als er zum ersten Mal in Miras Augen blickte.

Sie waren außergewöhnlich. Die Iriskreise waren so weiß, dass sie durchsichtig wie eine Flüssigkeit wirkten und unergründlich wie eine klare Wasserfläche. Oder eher wie ein Spiegel, korrigierte er sich, als er tiefer hineinsah, denn er konnte nicht anders, die verblüffende, ungewöhnliche Schönheit ihres Blickes zog ihn immer näher.

Er wusste nicht, wie lange er starrte - es konnten höchstens ein paar Sekunden gewesen sein, aber nun wurden ihre Pupillen kleiner, schrumpften zu winzigen schwarzen Nadelstichen in den endlosen Kreisen von Silberweiß. Die Farbe schimmerte und schlug Ringe, als wäre über der ruhigen Wasseroberfläche eine Brise aufgekommen. Unglaublich. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gesehen. Er sah tiefer hinein, unfähig, dem seltsamen Spiel des Lichtes in ihren Augen zu widerstehen.

Als es sich legte, sah Nikolai dort sein Spiegelbild.

Er sah sich und jemand anderen … eine Frau. Sie waren nackt, ihre Körper aneinandergepresst, glänzend vor Schweiß. Er küsste sie wild, vergrub die Hände in ihrem glänzenden, dunklen Haar. Drückte sie unter sich, während er tief in sie hineinstieß. Er sah sich, wie er seine Fangzähne bleckte, den Kopf senkte und den Mund auf die zarte Neigung ihres Halses presste.

Er schmeckte die Süße ihres Blutes, als er ihre Haut und Vene durchstieß und zu trinken begann …

„Hölle noch mal“, stieß er hervor und riss den Blick von der verwirrenden, allzu realistischen Vision. Seine Stimme war rau, seine Zunge dick hinter seinen plötzlich ausgefahrenen Fangzähnen. Sein Herz raste, und weiter unten war sein Schwanz hart wie Stein. „Was ist da passiert?“

Jeder starrte ihn an, jeder außer Renata, der es offenbar wichtiger schien, Mira zu helfen, ihren Schleier wieder anzulegen. Sie flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr, dem weichen Tonfall nach tröstende, beruhigende Worte. Sergej Jakuts tiefes, donnerndes Lachen wurde von den anderen Männern mit einem amüsierten Glucksen quittiert.

„Was hat sie mit mir gemacht?“, fragte Niko heftig, nicht im Geringsten erheitert. „Was zum Teufel war das?“

Jakut lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste wie ein Zar, der einen seiner Untergebenen der öffentlichen Lächerlichkeit preisgab. „Sag mir, was du gesehen hast.“

„Mich“, platzte Niko heraus und versuchte immer noch, eine Erklärung dafür zu finden. Die Vision war so realistisch gewesen. Als wäre das, was er gesehen hatte, in diesem Augenblick wirklich passiert, gar nicht wie die Sinnestäuschung, die es doch gewesen sein musste. Sein Körper war weiß Gott nur allzu überzeugt davon, dass es real gewesen war.

„Was hast du noch gesehen?“, fragte Jakut munter. „Bitte sag es mir.“

Sonst noch was?! Niko schüttelte stumm den Kopf.

Verdammt noch mal, diese lustvolle Szene würde er sicher nicht vor allen hier im Raum ausbreiten. „Ich habe mich selbst gesehen … eine Vision von mir selbst, gespiegelt in den Augen des Mädchens.“

„Was du gesehen hast, ist ein Blick in deine Zukunft“, informierte ihn Jakut. Er machte dem Mädchen ein Zeichen, zu ihm zu kommen, legte seinen Arm um ihre schmächtigen Schultern und zog sie an sich, als wäre sie sein kostbarster Besitz. „Ein Blick in Miras Augen, und du siehst eine Vision von Ereignissen deines Lebens, die das Schicksal dir vorherbestimmt hat.“

Es brauchte nicht viel, um das Bild wieder vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören. Oh Hölle, überhaupt nicht viel. Dieses Bild hatte sich so gut wie unauslöschlich in seine Erinnerung und all seine Sinne eingebrannt. Nikolai zwang seinen rasenden Puls, sich zu beruhigen. Zwang seinen tobenden Ständer nieder.

„Was hat Mira deinem Angreifer letzte Woche gezeigt?“, fragte er, um die allgemeine Aufmerksamkeit wieder von sich abzuwenden.

Jakut zuckte die Schultern. „Das kann nur er wissen. Das Mädchen weiß nicht, was andere in ihren Augen sehen.“

Gott sei Dank. Niko graute bei dem Gedanken, was sie sonst gerade für eine Unterrichtsstunde genossen hätte.

„Was immer der Mistkerl gesehen hat“, fügte Jakut hinzu,

„war genug, um ihn zögern zu lassen und mir so die Chance zu geben, dem Tod zu entkommen, den er mir zugedacht hatte.“ Der Gen Eins grinste. „Die Zukunft kann beunruhigend sein, besonders wenn sie einen unerwartet trifft, was?“

„Oh ja“, murmelte Nikolai. „Kann man wohl sagen.“

Eine ordentliche Dosis von dieser Weisheit hatte er eben am eigenen Leib erfahren.

Denn die Frau, die nackt um ihn geschlungen war und sich so leidenschaftlich in seinen Armen gewunden hatte, war keine andere gewesen, als die kalte, atemberaubende Renata.

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